Geschichte: Vor 25 Jahren

Die Schach-WM 1981 von Meran

 

 

Nicht nur die Organisatoren, auch die Stadt Meran ging als Sieger dieser WM herhor, und das nicht nur aus finanzieller Sicht: 55.000 Zeitungsartikel und die Fersehübertragungen in alle Welt machten den Südtiroler Kurort zum Nabel der Schachwelt, für die Stadt war dies ein ungeheurer Werbewert, den man sich wohl nie hätte leisten können, wenn man ihn bezahlen hätte müssen, wie Siegfried Unterberger unterstrich.

 

   Das Hickhack dieses Zweikampfes fand schon vor dem ersten Zug am 1. Oktober statt. Die Sowjets übermittelten der Organisation einen 70 Punkte umfassenden Katalog voller Forderungen. Einige "Vorarbeiten" leistete die Karpov-Delegation selbst: Mit einem Geigerzähler wurde die radioaktive Strömung aufzuspüren versucht, Aufzeichnungen über die klimatischen Verhältnisse gemacht und Trinkwasseranalysen erstellt. Irrwitzig klingt, dass auch die Kriminalitätsrate in Meran genauestens unter die Lupe genommen wurde: Berichte über geplante Entführungen bereiteten den Sowjets Kummer.

   Außer, das die gesamte Vorbereitung der Organisatoren sehr präzise abgewickelt wurde, war man darüber hinaus sehr bemüht, keine Konflikte entstehen zu lassen. Auch die Spieler trugen ihren Teil dazu bei. Aber die Publicity kam von einer anderen Seite: Der Delegation des Herausforders wurde unmittelbar vor dem Wettkampf ein Artikel der Nachrichtenagentur TASS zugespielt, in dem das Privatleben Kortschnois in diffamierender Weise ausgebreitet wurde. Kortschnoi forderte über seinen Pressesprecher die freie Ausreise seiner Frau Isabella und seines inhaftierten Sohnes Igor. Darüber hinaus beklagte er, dass seine Familenangehörigen "nicht wie er den Schutz der Schweizer Flagge genießen".

   Einer Pressekonferenz blieb er fern: Er war sehr erbost darüber, dass die sowjetische Presse die Beziehung zu seiner Managerin Petra Leeuwerik (seine heutige Lebensgefährtin) unter die Lupe genommen hat. Karpov wich allen in diese Richtung zielenden Fragen aus, betonte aber, dass es Kortschnoi liebe, die Stimmung anzuheizen. Brodbeck, Kortschnois Delgationsleiter, sprach von einer "Schweinerei ohnegleichen". Petra Leeuwerik, die am Rande der WM bald im Mittelpunkt stand, fügte hinzu: "Je mehr Dreck die werfen, desto fester werden wir." Die Karpow-Delgation bezeichnete die Journalisten, die nach den Problemen Kortschnois fragten, als Störenfriede.

   Ein letztes Problem, das es auf dem Weg zur ersten Partie zu lösen galt, war die Angelegenheit mit der Flagge auf dem Tisch. Zwar war Kortschnoi zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Besitz der Schweizer Staatsbürgerschaft, Bern hatte ihm aber den Gebrauch der Fahne erlaubt. Zwar gab es auch dagegen einen Einspruch von der sowjetischen Delegation, sie zeigten sich aber dennoch kompromissbereit.

   Schließlich einigte man sich über die Spieltermine: Spieltage waren der Montag, der Donnerstag und der Samstag. Jedem standen drei Auszeiten zur Verfügung. Sieger war, wer zuerst sechs Partien gewann. Remis-Partien zählten für die Wertung nicht.

   Beide Seiten bereiteten sich auf einen langen Herbst vor. Die Karpov-Delgation bezog ihr Revier in einem Meraner Luxushotel mit acht Containern, unter anderem mit sowjetischen Konserven und 7000 Büchern, Kortschnoi erschien angeblich mit mehreren Dutzend Koffern. Seine Ankunft und sein Reiseweg blieben geheim: Man fürchtete mögliche Aktionen des sowjetischen Geheimdienstes.

   Am 30. September 1981 fand die Eröffnung statt. Zum Händedruck zwischen den beiden Protagonisten kam es nicht. Eine österreichische Wochenzeitschrift wunderte sich aber, dass sich Kortschnoi erhob, als die Untermaiser Bürgerkapelle die Schweizer Nationalhymne spielte...

   Alles blieb ruhig. Das, vorauf viele gewartet haben, blieb aus. Seit dem Duell 1972 zwischen Spasski und Fischer, war das nicht so. Der beiderseitige Wille zur Einsicht und Kompromissbereitschaft stach hervor. Das Duell konnte beginnen. Auf der einen Seite der linientreue Karpov, der mit  "still, schlank, klein, feingliedrig, humorlos und  introvertiert" bezeichnet wurde, auf der anderen Seite der in den Westen geflüchtete Kortschnoi, der als "laut, groß, grob, humorvoll und extrovertiert" galt, aber 1956 bei der Sowjet-Meisterschaft einem Gegner das Brett auf den Kopf warf und 1972 einen Großmeisterkollegen und früheren Weltmeister ohrfeigte.

 

Der Wettkampf beginnt

 

   Es schien, als gebe es keine Gelegenheit dazu. Also blieb der obligatorische Handschlag aus. Kortschnoi, der für die erste Partie die weißen Steine gelost bekam, eröffnete mit dem c-Bauern. Als die Partie im 40. Zug abgebrochen wurde und Kortschnoi später aufgab, galt das als eine Überraschung. Dennoch glaubten viele, der Herbst in Meran würde noch lange dauern.

   In der zweiten Partie geriet Kortschnoi wie schon in der ersten erneut in Zeitnot. Die Abbruchstellung verhieß für Kortschnoi nichts gutes. Tags darauf nahm er den Kampf wieder auf, kapitulierte aber schon nach wenigen Zügen. Damit stand es bereits 2:0 für Karpov. Ein sensationeller Auftakt! Und auch jetzt wollte niemand an ein schnelles Ende glauben.

   Der Herausforderer war angeschlagen. Kortschnoi verließ Meran mit unbekanntem Ziel, hinter ihm blieben Vermutungen, er könnte den Kampf vorzeitig aufgeben. Seine Delegation dementierte dies energisch. Auch die Annahme, er könnte eine erste Auszeit nehmen, trat nicht an: Auch wenn es den ganzen Tag keine Lebenszeichen von Kortschnoi gab, erschien er püntklich um 17 Uhr  zur dritten Partie. Nach 40 Zügen bot Karpov die Punktteilung an, was der Herausforderer auch annahm. Allerdings kam es zwischen den beiden Kontrahenten zu einem Verbalduell.

   Als die vierte Partie abgebrochen wurde, bahnte sich das Unheil an. Die Kortschnoi-Delgation hoffte bei der nächtlichen Analyse auf ein Wunder, doch Karpov spielte in der Fortsetzung konzentriert seinen Vorteil aus und zwang Kortschnoi zum dritten Mal in die Knie. 3:0 für Karpov, ein Traumstart für den Titelverteidiger, ein Desaster für den Herausforderer, der daraufhin eine Auszeit nahm!

   Was geschah in Kortschois Delegation? Seine Sekundanten verbrachten eine feucht-fröhliche Nacht in der näheren Umgebung. Inzwischen kam auch wieder die Politik ins Spiel. FIDE-Präsident Olafson äußerte vor Journalisten seine Überzeugung, Kortschnois Familienangehörige könnten bald die Sowjetunion verlassen. Hatte er konkrete Hinweise?

   Noch vor der fünften Partie machten sich Experten Gedanken über Kortschnois Spielstärke. Bisher hatte er weinig gezeigt, seine Kämpferqualitäten blieben auf der Strecke. Doch er zeigte sich gelassen. Tatsächlich zeigte er in der fünften Partie seine bislang beste Leistung. Aber als die Partie abgebrochen wurde, war jedem klar, dass Karpov nur remis erreichen kann. Überschattet wurde diese Partie mit einem Drohbrief, der in Israel aufgegeben wurde.

   Auch in der sechsten Partie brachte Kortschnoi den Weltmeister in Schwierigkeiten. Über seinen 40. Zug dachte er 30 Minuten lang nach. Tags darauf gab er auf. Erinnerungen an den Kampf von Baguio wurden wach.

   Programmgemäß fand die siebte Partie statt. Erneut geriet Kortschnoi in Zeitnot, der Versuch, die Verteidigung Karpows zu durchbrechen, scheiterte. Remis. Nun schien dieser angeschlagen zu sein, und er nahm sich eine Auszeit.

   Die achte Partie endete beinahe in einem Drama: Nur um Sekundenbruchteile entging Kortschnoi einer Niederlage durch Zeitüberschreitung, auch die Abbruchstellung bereitete den Experten Kopfzerbrechen. Am nächsten Tag wurde die Partie fortgesetzt, im 80. Zug endete diese nach einen nervenaufreibenden Kampf mit einem Remis.

   Die achte Partie, so fürchteten Beobachter, könnte bei Kortschnoi Substanz gekostet haben. Sie täuschten sich nicht: Kortschnoi spielte die neunte Partie ungewöhnlich unkonzentriert und schwach und gab im 43. Zug auf. Karpov führte mit 4:1. Anscheinend kam es während der Partie abermals zu einem verbalen Duell zwischen den beiden Spielern.  Chronisten wurden tätig: Auch in Baguio führte er mit 4:1, als Kortschnoi den Spieß umdrehte. Doch immer öfters wurde bezweifelt, dass ihm das auch in Meran gelingen würde. Gesundheitlich angeschlagen beantragte er seine zweite Auszeit.

   Trotz seines Rückstandes genoss Kortschnoi die Sympathien des Publikums. Als er mit zwei Minuten Verspätung zur zehnten Partie erschien, wurde er von den Zuschauern mit lang anhaltendem Applaus begrüßt. Die Partie war wenig aufregend, Beobachter waren sich einig, dass es die langweiligste Partie war. Kurz vor der Partie war der Präsident des Sovjet-Schachverbandes in Meran eingetroffen. Die spielfreien Tage verbrachten die Kontrahenten recht unterschiedlich: Kortschnoi mit Variantenbüffeln, Karpov in Venedig.

   Vor der elften Partie zogen sich beide in ihre Ausweichquartiere zurück: Kortschnoi in Algund, Karpov in Schenna. Inzwischen hatte wieder einmal die Schachpolitik das Wort: Die Nachrichtenagentur TASS widersprach der These, wonach westliche Journalisten die spielerische Schwäche Kortschnois auf die nicht genehmigte Ausreise seiner Frau und seines Sohnes zurückführten: "Eine Erfindung derer, die den 1:4-Rückstand des Herausforderes nicht als Tatsache anerkennen wollen", hieß es.

   Die elfte Partie selbst war ein Spiegelbild des bisherigen Niveaus. Allgemein machte sich Enttäuschung über die Qualität der Partien breit. Nur Hort, der als Kommentator in Meran fungierte, sprach von der bisher besten Partie des Wettkampfs. Wie auch immer, sie endete nach 35 Zügen mit remis. Nun wurde bekannt, dass es in Kortschnois Delegation zu Meinungsverschiedenheiten gekommen ist, weswegen Shamkovich wieder abreisen wollte, obwohl er erst kurz zuvor zu Kortschnois Delegation dazukam.

   Es hieß, dass es auch während der zwölften Partie zu einem Wortgefecht zwischen den beiden Protagonisten gekommen sein soll, weshalb Kortschnoi von der Jury mit Großmeister Gligoric an der Spitze mit einer Verwarnung belegt wurde. Die Partie brachte ein weiteres Remis. Pachmann sagte nach dem 18. Zug: "Ich kann Karpovs Spiel überhaupt nicht verstehen!" Ihm war aufgefallen, dass der Weltmeister nach 16 Zügen eine überlegene Stellung aufgebaut hatte, dann aber zwei Züge folgten, die ihn zu dem erwähnten Ausruf veranlassten. Nach der Partie glaubten Schachexperten, eine Schwäche bei Karpov ausgemacht zu haben.  Kortschnois Sekundant Michael Stean ließ verlauten:  "Je länger es dauert, umso glücklicher sind wir!"

   Anscheinend war Kortschnoi durch seine Regelwidrigkeit "in Fahrt" gekommen, und dies schien der Exilrusse zu brauchen. Die Stimmung war entsprechend. Als die dreizehnte Partie nach dem 41. Zug abgebrochen wurde, deutete alles auf einen Sieg für den Herausforderer zu sprechen. In der Nacht wurde analysiert, und es zeichnete sich tatsächlich eine Niederlage Karpovs ab. Dessen Sekundanten sahen es auch so und gaben die Partie auf. Karpov nahm sich darauf hin die zweite Auszeit. Beobachter erkannten ein taktisches Manöver, um Kortschnois Aufwärtstrend zu stoppen.

   Ins Gespräch kamen nun Kortschnois beleidigende Äußerungen, die zur Verwarnung geführt hatten. Kortschnoi hätte gut daran getan, sich herauszuhalten. Sein Rechtsanwalt erreichte, dass FIDE-Präsident die Verwarnung für gegenstandslos erklärte. Der Weltmeister hingegen erhielt jetzt, wo sich eine Schwächephase ankündigte, Schützenhilfe aus der Heimat: TASS behauptete, Kortschnoi gehe es gar nicht um die Ausreise seiner Angehörigen, da er ja schon längere Zeit mit einer Holländerin zusammenlebe. Kortschnoi ließ sich provozieren: Statt sich auf den Wettkampf zu konzentrieren nahm er den Schlagabtausch auf der politschen Bühne auf. In einer Pressekonferenz sagte er, Karpov hätte die Behörden gebeten, seine Frau und seinen Sohn nicht ausreisen zu lassen. Die Experten waren entsetzt. Kortschnois Team war in Hochstimmung. Hatte Kortschnoi jene Emotion gewonnen, die er für den Titelkampf brauchte?

   Doch der Spielverlauf wurde völlig auf den Kopf gestellt. In der vierzehnten Partie dachte er über den 14. Zug 78 Minuten lang nach. Dadurch geriet er in Zeitnot und kam nicht mehr recht ins Spiel. Die Partie wurde nach dem 46. Zug in hoffnungsloser Stellung abgebrochen. In Kortschnois Delegation herrschte Niedergeschlagenheit, die aufgekeimten Hoffungen waren jäh zerschlagen. Experten suchten eine Erklärung für Kortschnois schwankende Form - und sie machten die Eröffnungswahl dafür verantwortlich.

   Inzwischen hatte das Karpov-Team alles für die Siegerehrung vorbereitet. Tatsächlich befand sich Meran bereits in entsprechender Stimmung. Es wurde sogar damit spekuliert, Kortschnoi könnte endgültig aufgeben. Der tat das aber nicht. Die fünfzehnte Partie endete nach 40 Zügen mit Remis. Die Offerte dazu kam von Kortschnoi, der es zwei Stunden vor der Wiederaufnahme unterbreitet hatte.

   Es war klar, dass Kortschnoi nun kein Fehler unterlaufen durfte, als er zur sechzehnten Partie antrat. Karpov konnte vieles tun. Auch etwas riskieren. In der Tat gingen beide sehr aggressiv ans Werk. Die Abbruchstellung schien das Ende der Weltmeisterschaft anzukündigen. Der Sekt war kalt gestellt. Doch völlig überraschend unterbreitete Karpov ein Remisangebot, das von Kortschnoi natürlich angenommen wurde.

   Hatte sich die Aufregung nach ein paar Tagen gelegt, sorgte die siebzehnte Partie für neue Aufregung - und noch mehr Ärger: Schon nach 24 Zügen endete sie Remis. Wieder stand das Niveau des Kampfes in der Kritik, ein rasches Ende schien gnädiger als das, was die beiden besten Schachspieler der Welt bisher boten. Freilich wurde darüber spekuliert, wie lange der Wettkampf noch dauern würde.

   Planmäßig begann am 19. November 1981 die achtzehnte Partie. Über den 13. Zug dachte Kortschnoi über eine Stunde, obwohl man die Stellung in der Vorbereitung genau analysiert hatte, wie Stean sagte. Nicht zu unrecht wurde vermutet, Kortschnoi hätte weder zu sich noch zu seinen Sekundanten so viel Vertrauen, die Varianten ohne größere Zeitverluste zu spielen. Genau dies schien die Krise in Kortschnois Spiel zu demonstrieren. Als am Abend die Partie abgebrochen wurde, war es fraglich, ob die Partie wieder aufgenommen wird. Tags darauf ging es weiter. Aber nicht am Schachbrett. Kortschnoi hatte dem Hauptschiedsrichter die Aufgabe übermittelt.

   Anatoli Karpov blieb damit Weltmeister. Er erhielt 500.000 Schweizer Franken, Kortschnoi blieben 300.000 Franken.